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Text 11 von Paula Alexandra Blomenkamp

„Klassikerlektüre – muss das sein?“ 

von Paula Alexandra Blomenkamp

Der Untertan von Heinrich Mann umfasst etwa 412 Seiten. Nach geschätzten 190 davon befindet sich der Durchschnittsschüler von heute im komatösen Tiefschlaf, wenn er es überhaupt bis dahin geschafft hat. Da drängt sich die Frage auf, ob die Lektüre des Klassikers Der Untertan heute überhaupt noch angemessen ist? 

Zuerst einmal liefert Heinrich Mann in seinem Roman ein umfassendes Porträt der Gesellschaft zur Kaiserzeit in Deutschland. In seinen Figuren zeigt er dabei folgende politische Richtungen auf, die sich konfliktreich gegenüberstehen: Der alte Buck steht sinnbildlich für den Liberalismus, sein Gegenpart, die Hauptfigur Diederich Heßling und dessen Spießgesellen für die kaisertreuen Nationalisten. Und nicht zuletzt gibt es noch den Sozialismus, der durch die Figur des Napoleon Fischers verkörpert wird. In Manns Roman triumphiert keine dieser Parteien. Der alte Buck stirbt und mit ihm der Liberalismus und die humanistischen Ideale. Die Nationalisten werden durchweg mit Ironie verhöhnt und bekommen am Ende ihr Fett weg. Die Sozialisten scheinen zu guter Letzt fast wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Eine Dystopie für die Zukunft des Kaiserreichs, mit der Heinrich Mann seine Leser:innen zurücklässt. Wie soll es nun in Deutschland weitergehen? 

Die Frage scheint fast überflüssig in Anbetracht der Tatsache, dass das Werk im Rückblick prophetischen Charakter hat. Der Weltkrieg bahnt sich schon an. Aber noch viel erschreckender ist, dass der Antiheld Diederich Heßling wie der ideale Vorläufer für einen Nationalsozialisten wirkt. Die Denkmalsenthüllungsszene am Ende des Romans entfaltet ihre volle apokalyptische Wirkung erst, wenn man sie im Zusammenhang mit kommenden historischen Ereignissen sieht. Ein Untergangsszenario, das sich äußerst verheerend bewahrheitet. Der Roman wurde 1914 fertiggestellt, lange bevor die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Es ist nicht verwunderlich, dass sie neben vielen anderen Werken auch den Untertan verbrannt haben. 

Sprachlich versiert und mit ironischem Unterton etabliert Heinrich Mann in seiner Hauptfigur den Typus des deutschen Untertanen, der das damalige Gesellschaftsbild beherrschte. Aus Schwäche unterwirft sich Diederich Heßling der höheren Macht; dennoch dürstet es ihn selbst nach Machtausübung. Er will die ihm sozial Untergeordneten, wie z. B. seine Angestellten beherrschen. Dabei gibt er sich wie sein großes Vorbild der Kaiser, dem er willig nachfolgt und imitiert.

Darüber hinaus ermöglicht der Roman Einblick in die sozialen Strukturen im Kaiserreich. Natürlich ist Der Untertan keine historische Quelle, er bietet als literarisches Werk dennoch einen fast gleichwertigen Zugriff. Die Lektüre dieses Romans kann für die Schüler:innen einen fächerübergreifenden vertiefenden Blick auf die deutsche Geschichte ermöglichen. 

Dabei ist stets zu bedenken, dass ein Blick in die Vergangenheit einen über die Zukunft belehren kann. Wenn man vergangene Fehler kennt, wiederholt man sie im wünschenswerten Fall nicht. Der Untertan ist aber nicht nur in dieser Hinsicht für die heutige Zeit relevant. 

Heinrich Manns Roman ist nämlich nicht nur als reiner Rückblick auf längst vergangene Zeiten zu verstehen. Der bereits angesprochene Untertanen-Typus, den der Schriftsteller etabliert, ist zeitlos. Diesen zweiseitigen Charaktertyp, den er in Diederich Heßling aufzeigt ‒ zum einen das Unterwürfige, zum anderen das Egoistische und Anmaßende ‒  gibt es auch heute noch. Und zwar in hochaktuellem Kontext: Die Querdenker-Bewegung kann in ihrer Gesamtheit als Untertanen-Phänomen aufgefasst werden. Bezeichnend dafür ist einerseits die fälschliche Annahme, über Erkenntnisse zu verfügen, die dem Rest der verblendeten Bevölkerung verwehrt bleiben; andererseits auch die verstärkte Bereitschaft, einzelnen Individuen zu folgen. 

Weiterhin ist Der Untertan stilistisch und literarisch versiert verfasst. Dies bietet für Schüler:innen eine wunderbare Grundlage zur Arbeit im Unterricht. Das Analysieren eines Textes, der reich an Stilmitteln ist, fällt oftmals leichter, da nicht zwingend jedes gefunden und benannt werden muss. 

Insgesamt zeigt sich also, dass Der Untertan sowohl ein adäquates Porträt der Vergangenheit abbildet, als auch über eine zeitlose Komponente verfügt. Sein Inhalt erweist sich auch in der heutigen Zeit am Beispiel der Querdenker als hochaktuell. Demnach ist der Roman als Lektüre für Schüler:innen sehr empfehlenswert. Der einschläfernden Wirkung, die allein schon das Wort „Klassikerlektüre“ hat, ist somit zu widerstehen.

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