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Text 6 von David Oßenbrück

Der Mensch landet immer wieder bei Null

David Oßenbrück 

,,Nach oben buckeln, nach unten treten” und ,,nach oben buckeln, nach unten treten” und weiter ,,nach unten treten, nach oben buckeln”.

Ein Grundsatz des Menschen, den er immer wieder überwinden möchte und doch immer wieder übernimmt. Wie eine Uhr. Die fängt auch immer wieder bei Null an und schreitet doch voran. So auch der Mensch: Er verwirft alle Erfahrungen und meint, etwas Neues zu machen. Doch dabei kommt er nicht vom Fleck, wie der Zeiger einer Uhr. Ein gutes Beispiel hierfür sind Demonstrationen. Egal ob Querdenker:innen oder Impfgegner:innen. Man geht demonstrieren, man ist revolutionär. Man sieht die Dinge, wo andere Menschen blind sind. Denken sie. Dabei rennen auch sie nur dem Veranstalter hinterher. Die Polizei sichert die Demonstration vor Gegendemonstranten und aufdringlichen Journalisten ab. Dafür danken ihnen die Demonstrant:innen mit der Beschimpfung der Polizisten als Faschisten. Denn sie haben sich ihr Recht auf Demonstration, in dieser ‒ für sie so empfundenen Diktatur ‒ erkämpft. Denken sie. Doch das Demonstrationsrecht ist schon lange im Grundgesetz verankert. Egal. Man selbst tritt Polizisten und buckelt vor eigenen Leitfiguren und eigenen Leitgedanken. Auch wenn man diese nicht versteht, oder mit dem eigenen Wissen ‒ würde man es nur nutzen ‒ überdenken bzw. widerlegen könnte.

Ein Mädchen etwa vergleicht sich auf einer Querdenker-Demonstration mit Anne Frank. Sie dürfe wegen der Ausgangssperre nur leise mit ihren Freund:innen ihren Geburtstag feiern. Sie fühle sich wie im Hinterhaus, in dem Anne Frank über Jahre ausharrte, bis sie entdeckt wurde. Und die Menge ist erschüttert über diesen abstrusen Vergleich? Nein. Sie klatscht. Sie applaudiert. Ohne dass irgendjemand einen Einwand äußert, der hier durchaus begründet ist. Insgesamt wird jedoch nur ein kleiner Teil der Demonstranten diesem Vergleich wirklich zustimmen. Der Rest wird dem Mädchen nicht zugehört haben und nur klatschen, weil die anderen klatschen. Mitläufer, nichts als Mitläufer. Womöglich werden sie am Abend von einer großartigen Demonstration berichten, sich als Widerständler:innen sehen und gegen etwas kämpfen, das gar nicht existiert. Das Mädchen wird durch den Applaus in ihren Aussagen bestärkt. Sie hat diese von einem Zettel abgelesen, den ihr ihre Eltern vorher gegeben haben. Ihre Eltern schrieben das Blatt und wurden wohl von Corona-Leugnern wie Attila Hildmann oder Samuel Eckert angeregt, die die Existenz des Covid-Virus in Frage stellen und alles als eine Art Verschwörung sehen, gegen die man aufstehen muss.

Dieses Szenario kann auf Heinrich Manns Roman Der Untertan übertragen werden. Das Mädchen kann als moderner Diederich Heßling gesehen werden. Es wächst auch in guten Verhältnissen auf. Beide könnten eigentlich zu selbständig denkenden Menschen heranwachsen. Sie bekommen jedoch von ihren Eltern falsche Bilder vermittelt, die wiederum falsch beeinflusst werden, ohne eigenständig darüber nachzudenken. Diederichs Einstellung wird durch Vater, Schule und Neuteutonia geprägt. Sollte die Pandemie noch länger andauern und die Demonstrationen weitergehen, kann es für die generelle Einstellung des Mädchens schwere Folgen haben. Attila Hildmann und andere bekannte Corona-Leugner:innen können so als Kaiser gesehen werden, denen das Mädchen glaubt. Diese jedoch interessieren das Mädchen nicht, wie der Kaiser kein Interesse an Diederich Heßling hat.

Auch ist bei den Demonstrationen zu sehen, dass sich Rechtsradikale unter die Demonstrant:innen mischen. Denen ist egal, für was demonstriert wird; sie wollen nur ihre Ideologie verbreiten, Präsenz zeigen, gegen den Staat sein und Leute von sich überzeugen. Hier kann man einen Bezug zum Gerichtsprozess gegen den Fabrikanten Lauer im Roman herstellen. Diederich Heßling ist Lauer als Person und dessen Schicksal egal; es hätte eine beliebige Person auf der Anklagebank sitzen können. Er will nur sein Ansehen gegenüber dem Regierungspräsidenten von Wulckow, den Richtern, dem Staatsanwalt und den Zuhörern stärken.

Heute lassen sich vermutlich nicht mehr alle Seiten des Untertan in einer Person vereinen, wie das bei der Hauptfigur der Fall ist. Vielmehr finden sich einzelnen Facetten in unterschiedlichen Gruppen wieder, die aber miteinander korrelieren. Die Untertanen-Mentalität von damals hat sich somit zwar verändert, ist aber noch durchaus vorhanden und muss immer neu betrachtet werden. Es ist daher gut, dass der Roman auch heute noch, in älterer Sprache formuliert ist und keine moderne Version gelesen wird, wie es der Wunsch von einigen Schüler:innen ist. Denn dem Leser soll klar werden, dass das wiedergegebene Menschenbild alt ist, aber nicht veraltet. Die Leser:innen soll selbständig diesen Menschentypus erkennen und feststellen, inwiefern es Übereinstimmungen mit der Gegenwart aufweist und möglicherweise auf zukünftige Entwicklungen vorausdeutet. Schließlich ist es wichtig, sein eigenes Handeln immer wieder zu überprüfen und klar zu überdenken, ohne auf einen/eine Anführer:in zu vertrauen und Verantwortung abzugeben. Nur so kann der Zeiger angehalten werden, um Zeit zu gewinnen und bedacht zu agieren ‒ ohne auf Null zurückzufallen. Nur so ist Fortschritt möglich und die Fehler der Vergangenheit können vermieden werden. Josef Froberger verweist kritisch darauf, dass der Roman eine andauernde Wiederholung gleicher Sitten und Verhaltensweisen der damaligen Zeit sei. Doch das ist genau das, was vermittelt werden soll: Das „Buckeln und Treten“ als Bild eines Typus ist noch immer aktuell. 

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