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Text 10 von Evelyn Hoffmann

Der Untertan - Die Geschichte eines „Followers“ des 19. Jahrhunderts

von Evelyn Hoffmann

Im Rahmen des Deutschunterrichts sind wir Schüler:innen gezwungen, uns ausgiebig mit Heinrich Manns Roman Der Untertan ‒ einem sogenannten Klassiker der deutschen Literatur ‒ zu beschäftigen. Für Klassiker ist es charakteristisch, dass sie erst nach mehreren Jahrzehnten zu solchen werden. Sie erzählen von den damaligen Verhältnissen und machen sie für uns anschaulich. Dies ist schön und gut, jedoch stellt sich uns Schüler:innen immer wieder die Frage, wieso wir einen Roman mit 453 Seiten, voll von komplizierten Formulierungen und Geschehnissen, lesen bzw. uns dessen Bedeutung erarbeiten müssen? Schließlich hat es keine Relevanz mehr für die heutige Gesellschaft und wir verhalten uns zudem auch nicht mehr wie Untertanen, oder etwa doch? 

Beginnt man den Untertan zu lesen, merkt man, wie das Interesse und die Konzentration sehr schnell verschwinden. Man ist gezwungen, sich zu überwinden, Seite für Seite zu lesen und den gelesenen Inhalt zu verstehen. Dabei verliert man leicht aus den Augen, welchen Hintergrund dieser Roman hat, zu was für einer schwierigen Zeit er spielt und unter welchen Umständen Heinrich Mann eigentlich gelebt hat. Die Thematik des deutschen Kaiserreiches kam bei uns im Geschichtsunterricht viel zu kurz oder wurde so gut wie gar nicht behandelt. Aufgrund dessen fehlte uns teilweise das Verständnis für die Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Politik. Diese historischen Lücken wurden im Deutschunterricht durch den Roman und durch zusätzliche Quellen gefüllt. Langsam begann man, Zusammenhänge zwischen der deutschen Geschichte und den Charakteren des Romans zu erkennen. Der Protagonist Diederich Heßling ist eine Allegorie für die Gesellschaft im deutschen Kaiserreich unter Wilhelm II und verkörpert im Roman eine ganze Gesellschaft. Gegenüber autoritärer Macht wie dem Kaiser ordnet er sich unter. Schwächere Menschen hingegen unterdrückt und tyrannisiert er. Laut Heinrich Mann entspricht dies dem gewöhnlichen Verhalten eines kaiserlichen Untertanen und der Gesellschaft kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges.

Als Gegenstück zu Diederich fungiert die Figur des alten Buck. Er repräsentiert im Roman die Kritik an der damaligen Zeit und steht für die Demokratie. Er vertritt eine Ideologie, die auf Freiheit und Gleichheit basiert. Mit dem Tod des alten Buck am Ende des Romans, versickern auch die demokratischen Werte, während der Nationalismus an Macht gewinnt. 

Den Roman könnte man beinahe als eine Prophezeiung bezeichnen, da Heinrich Mann durch seine frühe Gesellschaftsdiagnose den bevorstehenden Weltkrieg, den damit verbundenen Nationalismus und die autoritäre Ideologie bereits kommen sah. Alfred von Fischel war schon 1918 der Meinung, dass Manns Werk ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte darstellen und uns noch heute prägen wird. Dieser Überzeugung schließe ich mich an, da man durch den Roman eine Perspektive erhält, die zur damaligen Zeit nicht häufig vertreten gewesen ist bzw. nur selten öffentlich gezeigt wurde. Heinrich Mann selbst schrieb an den österreichischen Schriftsteller Paul Hatvani: „Romane, wie meinesgleichen sie schreibt, sind die innere Zeitgeschichte, die Geschichte, die noch niemand sieht oder wahr haben will, bis Schicksalstage sie furchtbar bekräftigen.“ (Heinrich Mann an Paul Hatvani, München, 3. April 1922)

Der Typus des Untertanen spiegelt sich auch in unserer heutigen Gesellschaft wider. Ein Beispiel dafür sind die Follower von Influencern. Als Follower folgt man einer Person, die ein scheinbar perfektes Leben lebt, der es an nichts mangelt und die vorgibt zu wissen, was gut und von Relevanz für andere Menschen ist. Man fängt an, die Interessen und Meinungen des Influencers zu teilen und zu vertreten, ohne sie meistens erstmal zu hinterfragen. Der Influencer wirkt sympathisch und verständnisvoll, weshalb viele Menschen dem nachgehen, was dieser vorlebt. Darüber hinaus wird man als Follower Teil einer großen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft vermittelt das Gefühl von Zugehörigkeit und bekannterweise fühlt man sich stärker und sicherer, wenn man in der Überzahl ist. Diese Thematik wird ebenfalls im Roman Der Untertan aufgegriffen. Diederich Heßling wird viel selbstbewusster und mutiger, als er Teil einer Gruppe ist. Es entsteht also ein kollektives Bewusstsein, welches dem Individuum das Gefühl vermittelt, das Richtige zu tun und hinter den richtigen Überzeugungen zu stehen. Die Problematik bei den Followern und den Influencern besteht also darin, dass sich die Follower abhängig von ihren vermeintlichen Idolen machen und ihre wahren Interessen und Meinungen unterdrücken, da sie möglicherweise Angst haben, damit zu einer Minderheit zu zählen oder anfangen, ihre eigenen Überzeugungen grundsätzlich als falsch anzusehen. Auch Andrea Bartl bestätigt, dass der Typus des Untertanen zeitlos ist und nennt ebenfalls als Beispiel die Influencer, welche die Machtposition einnehmen, während die Follower die Untertanen repräsentieren. 

Zusammenfassend kann man sagen, dass es auch heutzutage wichtig ist, sich mit dem Klassiker Der Untertan von Heinrich Mann zu beschäftigen, da der Roman uns zum einen die damaligen Umstände näherbringt, aber zum anderen auch davor warnt, dass sich das Vergangene nicht erneut wiederholt. Zudem ist die Thematik, dass man als Untertan agiert, auch heute noch von Relevanz und tritt in unterschiedlichen Formen immer noch auf. Das Lesen und Verstehen des Romans erscheint am Anfang zwar mühsam. Diese Mühe ist jedoch vollkommen wert, da Heinrich Mann uns indirekt lehrt, die Welt mit mehr Skepsis zu sehen und nicht unbedingt dem zu folgen, was die Mehrheit für „richtig“ empfindet.

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