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Text 1 von Anna Rehländer

Diederich Heßling ist wieder da!

Wer der Meinung ist, Heinrich Manns Abrechnung mit dem deutschen Untertanen-Geist sei längst überholt, der irrt. 

von Anna Rehländer

Komplizierte Sprache, schwerer Satzbau, altertümliche Worte ‒ ich war nicht begeistert, als meine Deutschlehrerin strahlend in den Klassenraum kam mit einem dieser berühmt-berüchtigten Klassiker in der Hand, fast 500 Seiten dick: Der Untertan von Heinrich Mann; 1914 beendet und 1918 erstmals erschienen. 

Deutschlehrer:innen lieben Klassiker. Ich verstehe nicht immer, warum. Auch beim Untertan fragte ich mich zunächst:  Was kann ein Buch, das die deutschen Verhältnisse vor mehr als hundert Jahren beschreibt, mir heute noch vermitteln? ‒ Wie weit die Wilhelminische Welt des Diederich Heßlings von meiner heutigen entfernt ist, sieht man schon beim ersten Blick in die Ausgabe unserer Klassenlektüre: Die Randspalten sind voll mit Übersetzungs- und Verständnishilfen, als wäre es ein Roman in einer Fremdsprache. Jetzt weiß ich, was „Buhldirnen“ sind und ein „Kommers“. Aber was bringt mir das?

Einen Klassiker lesen ‒ puhh … ich will nicht sagen, dass Der Untertan leicht zu verstehen ist, dass man jedes Wort auf Anhieb erfasst und man das Buch wie eine Gute-Nacht-Geschichte lesen könnte. Wer im Klassikerlesen ungeübt ist, hat ein Stück Arbeit zu bewältigen. Aber ich fühlte mich belohnt, weil der Roman mich zu Überlegungen motiviert hat, die mich noch lange nach der Lektüre weiter beschäftigt haben. Dass er auch noch hundert Jahre nach seinem Erscheinen gelesen wird, liegt daran, dass es um Fragen geht, die in jeder Generation und in jeder Gesellschaft immer und überall aktuell sind ‒ etwa das Verhältnis von Macht und Unterwerfung. Diese Zeitlosigkeit macht das Buch zum Klassiker. 

Zeitlos wie solche Fragen sind auch die Figuren im Roman, vor allem Diederich Heßling, „der verwöhnte Fabrikantensohn, einerseits Mitläufer ohne Rückgrat, der Untertan, andererseits ein Choleriker, ein Lebemann, Egoist und Tyrann“ (Heinrich Manns Der Untertan bleibt ein zeitloses Phänomen), wie ihn die Literaturwissenschaftlerin Andrea Bartl in einem Gespräch mit Catrin Stövesand charakterisiert.  

Mit Diederich Heßling hat Heinrich Mann eine Figur erschaffen, mit der ich mich als Leserin automatisch auseinandersetze ‒ vor allem, weil er mir unsympathisch ist. Er ist ein Intrigant, stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Er ist herablassend und böse zu seinen Mitmenschen und schleimt sich bei jenen ein, die im Status über ihm stehen. „Nach oben buckeln, nach unten treten“, urteilt Andrea Bartl. So viel „Mitleiden“ würde ein Unterhaltungsroman bei mir nicht auslösen.

Je länger ich im Untertan las, je besser ich Diederich Heßling kennenlernte, umso erstaunter stellte ich fest: Ich kenne solche Typen aus meinem eigenen Alltag! Die Schwächere einschüchtern und auf dicke Hose machen. Und die nach oben kuschen. „Sich aufspielen“ und „Unterwürfigkeit“ sieht die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler als aktuelle Tendenzen in der Gesellschaft und nennt als Beispiel die Querdenker-Bewegung. Solche Menschen leben laut Münkler in „Konversionsnarrativen“, d.h. nachdem sie vorher gewissermaßen sündig dachten, hätten sie in der Gedankenwelt der Querdenker ihre Bekehrung erfahren. Nun folgten sie dieser Weltanschauung „bedingungslos“. Münkler beobachtet in dieser Szene einen „Unterwerfungswillen“. Das ist auch mein Eindruck: Ein paar Wortführer der Bewegung geben die Richtung vor – und die Masse, von ihrer Weltanschauung zusammengeschweißt, folgt. Gegenmeinungen werden ignoriert. Menschen mit abweichender Haltung niedergebrüllt oder sogar bedroht. 

Heute gibt es weder Kaiser noch „Führer“, die den sogenannten „Volkswillen“ mobilisieren. Anders als im Kaiserreich kann man nicht mehr blind irgendwelchen Befehlen folgen, sondern muss für sich selbst Verantwortung übernehmen und in einer immer komplexeren und bedrohlicheren Welt zurechtkommen ‒ ich denke z.B. an den Ukraine-Krieg. Es scheint zunehmend Menschen zu geben, die sich von der Freiheit überfordert fühlen und Sehnsucht nach einem starken Führer haben, der alles für sie regelt. 

Für mich lautet eine der Botschaften des Romans Der Untertan: Sei du selbst und behandle alle Menschen mit Respekt. ‒ Denn genau das tut Diederich Heßling  n i c h t. Darüber ärgere ich mich auch am meisten beim Lesen: dass Heßling alles an Charakterschwäche verkörpert, was Deutschland schon zweimal in den Krieg getrieben hat. 

Mit all diesen aktuellen Bezügen im Kopf finde ich Diederich Heßling nicht nur unsympathisch. Er stellt vielmehr einen Charakter dar, vor dem sich unsere Demokratie hüten muss. Die Wilhelminische Gesellschaft, in der das Militär verherrlicht wurde, die sich Obrigkeiten ohne Widerspruch unterordnete und sich anderen gegenüber überlegen fühlte, zettelte 1914 jubelnd den Ersten Weltkrieg an – im selben Jahr, in dem Heinrich Mann seinen Roman beendete.

Lohnt es sich heute also noch, einen Klassiker wie den Untertan zu lesen? Ich glaube, mein Kommentar liefert viele Ansätze, diese Frage mit „ja“ zu beantworten. Gewiss, sich das Buch zu erschließen, kostet Anstrengung – eben wegen der teils altertümlichen Sprache und der zeitlichen Distanz. Aber je tiefer wir im Unterricht vorgestoßen sind, umso deutlicher zeigten sich Bezüge zu heute. Das Buch ist also ein Klassiker, weil es zeitlos ist. Jede Zeit ist anders, jede Gesellschaft ist anders – und doch gibt es die ewig aktuellen Fragen. 

Das Buch von Heinrich Mann hat mich dahingehend sensibilisiert, mich selbst und andere dabei zu beobachten, wie wir mit Macht und Unterwerfung umgehen. Die Figuren in Heinrich Manns Roman haben mich gelehrt, dass es nicht immer richtig ist, weder politisch noch menschlich, mit der Masse zu schwimmen. Manchmal muss man den Mut haben, sich der Masse, Typen wie Diederich Heßling, in den Weg zu stellen. Diese Einsicht, glaube ich, wollte Heinrich Mann seinen Leserinnen und Lesern vermitteln. Bei mir hat das geklappt.

 

 

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