Elisabeth Mann Borgese
Michael Mann
»Das Meer war für meinen Vater lebenswichtig, und das hat er ganz bestimmt an mich weitergegeben.«
Elisabeth Mann Borgese, geboren am 24. April 1918, ist das erklärte Lieblingskind von Thomas Mann. Seine Zuneigung fließt auch in sein literarisches Werk ein. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Geschwister hegt sie positive Erinnerungen an ihre Kindheit und an das Verhältnis zu ihrem Vater. Sie erhält Klavierunterricht und gibt zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Michael kleine Konzerte. Elisabeth ist noch Schülerin, als Hitler im Januar 1933 an die Macht gelangt und sie mit ihrer Familie ins Exil geht. In Zürich absolviert sie eine Ausbildung am Konservatorium, ohne jedoch jemals als Pianistin beruflich tätig zu werden.
Durch das kritische Mussolini-Buch Der Marsch des Faschismus von Giuseppe Antonio Borgese macht sie literarisch Bekanntschaft mit ihrem zukünftigen Ehemann. Sie lernt den 37 Jahre älteren Autor kurze Zeit später in Amerika persönlich kennen. Die beiden heiraten und bekommen zwei Kinder: Angelica und Domenica.
Elisabeth widmet sich zunehmend der Arbeit ihres Mannes, der sich für eine alle Länder umspannende »Weltregierung« einsetzt und versucht, eine Weltverfassung zu begründen. Dank ihres Verhandlungsgeschicks und ihres organisatorischen Talents wird sie schließlich Präsidentin bei der internationalen Vereinigung der Welt-Föderalisten.
Kurz nach dem Umzug der Familie nach Mailand, wo Borgese eine Stelle an der Universität angenommen hat, verstirbt er im Dezember 1952. Um finanziell über die Runden zu kommen, übernimmt Elisabeth die Redaktion zweier Kulturzeitschriften. Sie veröffentlicht erste Novellen und Erzählungen sowie die Feminismus-Studie Ascent of Women. Aufgrund ihrer Liebe zu Tieren versucht sie außerdem, Hunden das Schreiben und Klavierspielen beizubringen.
Der UN-Botschafter Arvid Prado bringt sie schließlich auf ihr Lebensthema: Die Weltmeere und deren Schutz vor Verschmutzung und Überfischung. Mit ihm zusammen entwickelt sie einen Entwurf für eine Seerechtsverfassung, die 1982 von 159 UN-Staaten ratifiziert wird. Außerdem gründet Elisabeth Mann Borgese das International Ocean Institute auf Malta, das mittlerweile 25 Zweigstellen auf der ganzen Welt unterhält.
Mit dem Buch Das Drama der Meere landet sie 1977 einen Bestseller und bringt die Zerstörung der Meere ins allgemeine Bewusstsein. Außerdem wird sie das einzige weibliche Gründungsmitglied des Club of Rome – einer Vereinigung, die sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit einsetzt.
Trotz fehlendem akademischen Werdegang übernimmt sie 1978 eine Gastprofessur an der kanadischen Universität in Hallifax und wird zwei Jahre später Professorin für Internationales Seerecht. Sie stirbt 2002 plötzlich bei einem Skiurlaub in der Schweiz.
»Zu unserem Papa stehe ich nicht weniger fremd, als er zu mir...«
Wie schon Golo und Monika Mann gehört auch Michael zu den weniger geliebten Kindern seines Vaters. Er kommt am 21. April 1919 als jüngstes Kind von Katia und Thomas Mann zur Welt. Später erfährt er durch die Tagebücher des Vaters sogar, dass man seine Abtreibung erwogen habe, um den labilen Gesundheitszustand von Katia zu schonen. Mit seiner Schwester Elisabeth verbindet ihn ein enges Verhältnis und die Liebe zur Musik. Er erhält früh Geigenunterricht und gibt mit ihr zusammen Konzerte.
Nach der Flucht der Familie aus Deutschland 1933 ins Schweizer Exil setzt Michael seine Ausbildung zum Geiger fort. Mit 19 Jahren heiratet er Gret Moser und zieht mit ihr nach London. Als die Nazis Großbritannien 1940 angreifen, flieht das Paar in die USA. Kurz nacheinander kommen die Söhne Frido und Toni zur Welt. Frido wird der Lieblingsenkel von Thomas Mann und geht als »Echo« in dessen Roman Doktor Faustus ein. 1942 wird Michael Mann Mitglied der San Francisco Symphony Orchestra und der Fakultät des Musikkonservatoriums. Er beginnt, sich mit Musiktheorie zu beschäftigen, Vorträge zu halten und zu publizieren. Außerdem unterstützt er seinen Vater bei dessen Arbeit am Doktor Faustus, wodurch sich beide etwas annähern.
Ab Ende der 1940er Jahre versucht sich Michael Mann als Solokünstler und gibt weltweit Konzerte. Zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters 1955 gibt er plötzlich sein Leben als Musiker auf und studiert Germanistik. Nach dem Abschluss erhält er zunächst eine Assistenzstelle an der Universität in Berkley und wird später Professor. Er widmet sich zunehmend dem Werk seines Vaters und betreut die Herausgabe seiner Tagebücher, die 20 Jahre nach dem Tod des Nobelpreisträgers unter Verschluss waren. Darin kommt ungeschminkt dessen Haltung gegenüber der Familie zutage – insbesondere die Abneigung, die er für seinen jüngsten Sohn empfindet. Bis heute ist nicht ganz geklärt, inwiefern Michael Mann die Tagebücher belastet und seinen plötzlichen Tod verschuldet haben.
Am Abend zum Neujahr 1977 wird er leblos aufgefunden, vergiftet durch eine tödliche Mischung aus Alkohol und Barbituraten. Einiges spricht dafür, dass er versehentlich eine zweite hohe Dosis des Medikaments eingenommen hat. Die von ihm vorbereitete Edition der Tagebücher wird nicht mehr veröffentlicht, da sie zu massive Streichungen aufweist. Stattdessen übernehmen Peter de Mendelssohn, ein Freund der Familie, und Inge Jens die Herausgabe der Tagebücher von Thomas Mann.
»Ich werde oft gefragt, warum gerade die Beschäftigung mit dem Meer zum Hauptthema meiner Lebensarbeit geworden ist. Ehrlich gesagt, habe ich lange Zeit gar nicht darüber nachgedacht – man tut halt, was man tut. Doch allmählich fühle ich auch selbst den Drang, mir darüber klarzuwerden, warum gerade das Meer…
Und jetzt ist es mir klar.
Zwei Strömungen fließen in mir zusammen.
Eine davon hat ihren Ursprung in meiner frühesten Kindheit. Ich sehe mich noch: Gegen Abend, es war kühl, und ich zitterte ein wenig; teils weil es kühl war, teils aus Erregung. Wir standen am Strand. […] Wir schauten aufs Meer hinaus – das erste Mal in unserem Leben. […]
Und dann standen wir [auf einmal am Meer] und schauten ganz benommen in die Ferne. Was mich am tiefsten beeindruckte, war der Horizont, der sich fest und ungebrochen, wie von einem überdimensionalen Zirkel gezeichnet, von einem Ende des Blickfeldes zum anderen hinzog. „Das ist der Horizont“, erklärte mein Vater.
„Und was ist hinter dem Horizont?“ fragte ich. […]
Heute lebe und arbeite ich am Meer. Die Aussicht von meinem Schreibtisch aus ist wie die von einem Schiff, und bei Flut umspült das Meer meinen Gartenzaun. […] Meine tiefe Liebe zum Meer spielte also sicherlich eine Rolle bei der Wahl meiner Lebensaufgabe. Sie bildet ihre emotionale und ästhetische Grundlage.
Die zweite Strömung wirkte erst viel später auf mich ein und war nicht emotionaler, sondern intellektueller Art. […]
1946 waren die Vereinten Nationen gegründet worden. […] Umdenken war vonnöten.
An der Universität von Chicago empfand man eine besondere Verantwortung […]. Es entstand das Committee to Frame a World Constitution, eine Vereinigung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Weltverfassung zu etablieren. Mein Mann, der Exilitaliener und Antifaschist Giuseppe Antonio Borgese, dessen Studentin und Mitarbeiterin ich war, war die Seele dieses Komitees.
Internationale soziale Gerechtigkeit, dessen waren wir uns sicher, verlangt grundlegende Änderungen in der Weltwirtschaft. Gedanken des damaligen Dekans von Canterbury, Hewlett Johnston, aufgreifend, schrieb unsere Weltverfassung vor, dass alle vier Elemente des Lebens – Wasser (die Meere, Flüsse, Seen und Grundwasser), Erde (Land und Bodenschätze), Luft (Atmosphäre) und Feuer (Energie in all ihren Formen) – als Gemeinschaftsgüter der gesamten Menschheit betrachtet werden müssen. Im Jahr 1948 […] eine absolut utopische Vorstellung. […]
1967, als Arvid Pardo, der große Botschafter der kleinen Insel Malta, seine berühmte Rede über die Meere vor der UNO hielt, da berührte unsere Utopie die Wirklichkeit: Die Weltmeere und ihre Bodenschätze sollen das gemeinschaftliche Erbe der Menschheit werden und im Interesse lebender und künftiger Generationen ausschließlich zu friedlichen Zwecken gefördert und verwaltet werden. In diesem Jahr entschied ich mich, mein geliebtes Meer, seinen Schutz und damit auch das Seerecht zu meiner Lebensaufgabe zu machen! […] Denn das Meer zwingt uns, anders zu denken und zu handeln.
Diese beiden beschriebenen Strömungen, die emotionale und die intellektuelle, sind es, die mein leidenschaftliches Engagement für das Meer in den vergangenen dreißig Jahren wachgehalten haben – und die es gewiss bis zu meinem Lebensende wachhalten werden.«
»Wenn ich zum fünften Male Vater werde, übergieße ich mich mit Petroleum und zünde mich an«, so Thomas Mann in einem Brief an Walter Opitz nach der Geburt seiner Tochter Monika. Doch sieben Jahre später, bei der Ankunft des fünften Kindes, kommt es ganz anders: Elisabeth wird zum erklärten Liebling des Autors, wie er in einem Brief an die Lübecker Freundin Ida Boy-Ed bekennt, »ein intensives kleines Wesen, aber reizend, wenn ich urteilen darf«, und ergänzt: »Ich habe für keins der früheren Kinder so empfunden, wie für dieses. Das geht Hand in Hand mit zunehmender Freude an der Natur.«
Doch nicht nur in seinen Tagebüchern und Briefen kommt die Liebe zur jüngsten Tochter zum Ausdruck. Für sie versucht sich der Romancier in einem ihm eher unüblichen Genre: dem Gedicht. Die dichterische Idylle Gesang vom Kindchen ist eine Liebeserklärung an Elisabeth und eine Flucht vor den Angriffen der Zeit kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Nach der Erstveröffentlichung des Textes in der April/ Mai-Ausgabe der Zeitschrift Der Neue Merkur erscheint dieser zusammen mit der Erzählung Herr und Hund 1919 im S. Fischer Verlag. In dem Gedichtepos schildert das lyrische Ich, wie das neugeborene »Kindchen« das Leben in der Familie bestimmt. Der Vater nimmt an allem Anteil, was der kleinen Tochter widerfährt: vom gebadet und gefüttert werden bis hin zu den ersten Ohrenschmerzen, unter denen das Mädchen leidet. Da Prosa und Lyrik in dem Stück verschmelzen, erweist sich das Versmaß nicht immer als fehlerfrei und wird dem natürlichen Sprachrhythmus angepasst. Moderne Begriffe stehen dabei im Widerspruch zum altertümlichen Sprachstil, der an antike Dichtung erinnert.
Den 100. Geburtstag von Thomas Mann 1975 begeht dessen Geburtsstadt Lübeck mit einer Festwoche. Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildet der Jubiläumsvortrag von Michael Mann am 6. Juni im Lübecker Stadttheater. Darin veranschaulicht er Thomas Manns Verbundenheit zu seiner Heimatstadt, geht auf die zentralen Motive in dessen literarischem Werk ein und umreißt die politische Haltung und das Engagement des Jubilars.
Lübeck, so der Redner, habe Thomas Mann seinen Sinn für Vornehmheit und Freiheit eingeimpft. Beides spiegelt sich nicht nur in dessen Geisteshaltung wider, sondern findet auch in dessen schriftstellerischem Schaffen Ausdruck. In seinen Werken wie Doktor Faustus ringt er um die Frage nach der Schuld des Künstlers, die Michael Mann als »glückhafte Schuld – felix culpa –« beschreibt. Sie ist quasi die Grundthematik, die das erzählerische Werk des Nobelpreisträgers durchzieht. So greift die Romanfigur Adrian Leverkühn aus dem Faustus-Roman ein Zitat des französischen Malers Edgar Degas mehrfach auf und offenbart dadurch folgende Auffassung des Autors:
»Ein Bild muß mit demselben Gefühl gemalt werden, mit dem ein Verbrecher seine Tat ausführt.«
Für den Künstler gibt es, so Michael Mann, kein Entkommen aus dieser Schuldhaftigkeit. Sie äußere sich etwa auch im Außenseitertum des Künstlers oder Schriftstellers.
Neben allgemeinen Überlegungen zur Religiosität im Werk von Thomas Mann, die mit Begriffen wie Schuld und Gnade im Zusammenhang steht, wendet sich der Redner schließlich der politischen Gesinnung seines Vaters zu. Dieser ist immer bestrebt gewesen, den Weg der Mitte zu gehen und sich nicht von extremen Positionen vereinnahmen zu lassen. Doch mit dem Zusammenbruch und spätestens mit dem wachsenden Einfluss des Faschismus in Deutschland und Europa ab Mitte der 1920er Jahre sieht er sich nach links gedrängt. Er stellt sich dabei die Frage nach der eigenen Verantwortung als Bewahrer und als »schöpferischer(r) Vermittler kultureller abendländischer Überlieferung«. So die letzten Worte, mit denen der Festvortrag von Michael Mann endet.