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Text 8 von Berit Schäfer

Klassikerlektüre – damals versus heute

von Berit Schäfer

Komplizierte Satzgefüge, veraltetes Vokabular und bedeutungsloser Inhalt. Die Geschichte eines kindischen und verformbaren Jungen, der – verängstigt und fasziniert von Autorität zugleich – zu einem kaisertreuen Untertanen heranwächst und gleichzeitig auf tyrannische Art und Weise von anderen fordert, sich ihm zu unterwerfen. Diederich Heßling verkörpert in Heinrich Manns Der Untertan aus dem Jahr 1914 den Typ des Untertanen der Gesellschaft unter Kaiser Wilhelm II. schlechthin.

Der mehr als 100 Jahre alte Roman von Heinrich Mann scheint mit seiner Thematik heutzutage im demokratischen Deutschland für uns Jugendliche keine Relevanz mehr zu haben. Wieso also sollte man ihn noch in der Schule lesen? Auch wenn der Inhalt und die Figur des Diederich Heßling für junge Schüler:innen auf den ersten Blick sehr irrelevant wirken mögen, ist dieser Klassiker mit seinem Grundgedanken von Machtverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft gerade heute aktueller denn je.

Der Roman wurde nach dem Ersten Weltkrieg 1918 erstmals in Buchform herausgegeben. Doch bereits vor dem Ausbruch des Krieges und somit vor dem Ende des Deutschen Kaiserreichs von Heinrich Mann geschrieben und teilweise veröffentlicht. Der Untertan gilt als ein bedeutsames Dokument der Zeitgeschichte, das nachvollziehbar macht, mit welcher Unterwürfigkeit und wie gedankenlos, ohne auf die eigene Würde zu achten, der Großteil des Bürgertums sich der Macht des Kaisers unterworfen hat. Gleichzeitig thematisiert Heinrich Mann den zunehmenden menschenfeindlichen Nationalismus und Antisemitismus als charakteristisch für den autoritätshörigen Deutschen im Wilhelminischen Kaiserreich und sieht damit auf erschreckende Weise die Herrschaft der Nationalsozialisten unter Führung Hitlers voraus. Für uns mag diese Prophezeiung heute sehr plausibel und eindeutig wirken, zur damaligen Zeit aber wollte niemand diese kritische Geschichte wahrhaben, bis sie auf grausige Weise eintraf.

Durch die satirische Darstellung des kaisertreuen Heßlings, wie beispielsweise in der Schlussszene des Romans mit der Enthüllung des Kaiserdenkmals und der Rede, die Diederich hält, übt Heinrich Mann Kritik an der für ihn grotesken Realität der deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs. Die Studentenvereinigung der Neuteutonen etwa macht aus Diederich Heßling einen Mitläufer ohne eigene Haltung und Zivilcourage in der Gruppe. Typisch für die Untertanenrolle sei es laut Mann, Entscheidungen abzugeben und keine Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen. Diederich gefällt es, dass ihm das selbstständige Denken abgenommen wird. Der Schriftsteller warnt somit vor dem Verzicht auf die eigene Verantwortung und vor der anonymen Mutlosigkeit innerhalb einer autoritären Gesellschaft.

In Deutschland leben wir heute entspannter miteinander und haben auch mehr Vertrauen ineinander. Wir leben in einer Demokratie und für uns Jugendliche bietet Der Untertan als warnendes Beispiel der Vergangenheit einen Aufklärungsansatz über die Idee von Macht in der Kaiserzeit und lässt uns unsere Freiheit bewusster wahrnehmen und wertschätzen. Als Bürger:innen in einer Demokratie haben wir keine andere Wahl, als politisch zu denken und aktiv an der Politik teilzunehmen, zumindest wählen zu gehen. Dazu gehört auch Verantwortung für sein Handeln und dessen Auswirkungen auf andere zu übernehmen. Nur so kann die Stabilität der Demokratie und die Würde des Menschen bewahrt werden.

Wir vergessen oftmals die Privilegien, die wir haben, weil wir in diesem Jahrhundert und in diesem Land in einer Demokratie aufwachsen dürfen. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir hier in Frieden leben. Nicht einmal 100 Jahre ist es her, dass in Deutschland Krieg herrschte und gerade jetzt, seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, muss uns bewusst werden, wie zerbrechlich die Wahrung dieses Friedens ist.

Der Untertan bietet eine zeitlose Gesellschaftsdiagnose, die davor warnt, sich blenden zu lassen und ohne kritisches Hinterfragen der Idee der Macht zu folgen oder sich vor ihr zu beugen. Die Leser:innen werden ermutigt, Zweifel zu äußern, selbstständig zu denken und selbst Urteile zu fällen, und so unsere Demokratie und den Frieden zu wahren. Warum also komplizierte Satzgefüge und alte und unverständliche Sprache freiwillig lesen und verstehen? Der Roman ist ein Klassiker, der auch mehr als 100 Jahre nach seiner Veröffentlichung noch von großer Bedeutung für die Jugendlichen von heute und von morgen ist und deshalb weiterhin gelesen werden sollte.

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