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Das Haus - Mengstraße 4 oder Buddenbrookhaus?

Zur Geschichte eines ganz realen fiktiven Ortes

»Meine Kindheit war gehegt und glücklich. Mit vier Geschwistern wuchs ich auf in einem eleganten Stadthause, das mein Vater sich und den Seinen erbaut hatte, und erfreute mich eines zweiten Heimes in dem alten Familienhaus aus dem 18. Jahrhundert, mit dem Spruche ›Dominus providebit‹ am Rokoko-Giebel, welches meine Großmutter väterlicherseits allein bewohnte und das heute als ›Buddenbrook-Haus‹ einen Gegenstand der Fremdenneugier bildet.«
(Gesammelte Werke XI, S. Fischer , S. 98) 

»Das alte Bürgerhaus [...] war mir das Symbol der Überlieferung, aus der ich wirkte.«
(Gesammelte Werke XI, S. Fischer, S. 1035) 

»Ich habe zu Ehren meiner Vaterstadt und meiner Familie auf meine Art ebensoviel getan, wie mein Vater, der vielleicht in Lübeck noch nicht ganz vergessen ist, auf seine Art getan hat. Ich habe in hunderttausenden Deutschen Teilnahme für lübeckisches Wesen geweckt, ich habe die Augen von hunderttausenden von Menschen auf das alte Giebelhaus in der Mengstraße gelenkt [...].«

Das Haus seiner Großeltern war das literarische Vorbild für den 1901 erschienenen Roman Buddenbrooks, der mittlerweile in 32 Sprachen übersetzt ist: Die Geschichte spielt zu großen Teilen in einem »Haus in der Mengstraße«, das große Ähnlichkeiten, aber auch einige Unterschiede zum Haus Mengstraße 4 in Lübeck aufweist. Thomas Mann orientierte sich beim Schreiben seines Romans an der historischen Wirklichkeit, verwandelte sie aber in Dichtung. Dadurch wurde auch das Haus als »Buddenbrookhaus« weltberühmt. Heute - ein Jahrhundert nach dem Erscheinen des Romans - hat es seine Bestimmung gefunden: Nach einer wechselvollen Geschichte beherbergt es das Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum, eine Gedenk- und Forschungsstätte für die beiden Schriftstellerbrüder.        

Geschichte des Hauses Mengstraße 4

1. Eigentümer und Bewohner vor 1758

Die erste Eintragung eines Besitzers für das Grundstück der Mengstraße 4 findet sich in den Lübecker Oberstadtbüchern im Jahr 1289. - Es wurde dort notiert, Arnoldus Calvus besitze ein Haus (domus) auf eben diesem Grundstück. Bis zum Jahr 1537 sind ein gutes Dutzend weiterer Eigentümer verzeichnet, in der Regel Fernhändler, ausnahmslos Ratsherren, Bürgermeister oder Ratsverwandte. Dann kaufte Hermann von Dorne das Haus. In der von Dorneschen Familie - sie stellte in jeder Generation einen Ratsherren - blieb das Haus rund 170 Jahre bis 1706. 

1758 kaufte Johann Michael Croll das Haus. Das »Schoßbuch«, ein Verzeichnis der Steuerzahler, berichtet für den Zeitraum 1752-60, der Kaufmann Johann Michael Croll habe auf dem Grundstück des »seligen Herrn Hinrich von Dorns ein Hauß gebauet« und wohne nun selbst darin. Die gleiche Schriftquelle spricht von einer »wosten stede« - das spricht für ein nicht mehr bewohntes, etwas heruntergekommenes Gebäude.

2. Grundstücksentwicklung und Taxation

Die Mengstraße gehört zu den sogenannten Hafenstegstraßen. In diesen Straßen westlich von St. Marien wohnten überwiegend Kaufleute. Das untere Ende der Mengstraße liegt nahe der Trave, das obere Ende auf dem Höhenrücken des Stadthügels, wo, hier wie andernorts auch, Mitglieder der Führungsgruppen lebten (»Herrschaft siedelt auf der Höhe«, Ernst Schirmacher, Stadtvorstellungen, 1987). Das Haus in der Mengstraße 4 blickt mit der Fassade direkt auf die Kirche St. Marien und zeichnet sich durch seine Lage am nördlichen Marktrand als Haus der städtischen Oberschicht aus. Nach 1800 wohnten in dieser Straße unter anderem ein Bürgermeister, ein Senator, zwei Prokuratoren und zwei Kaufleute. In dem Haus »Auf der Weede« (Mengstraße 8a-d, im Besitz der Kirche) wohnten die Pastoren von St. Marien.

Die bauliche Wertigkeit des Quartiers lässt sich anhand von Taxationslisten des Marktrandgebietes nachweisen. In diesen Listen wurden in regelmäßigen Abständen Bewertungen der Häuser für die Feuerversicherung und die Steuer vorgenommen. Das Haus Mengstraße 4 ist 1663 mit 6000 Mark lübisch taxiert und liegt damit im Mittelbereich der Skala für Giebelhäuser. Um 1800 gehört es mit einer Taxation von 30.000 Mark zur obersten Klasse - hier schlagen sich die baulichen Veränderungen des Kaufmanns Johann Michael Croll aus dem Jahr 1758 nieder, durch die das Haus erheblich an materiellem Wert gewinnt. Die gesamte obere Mengstraße lässt sich zu diesem Zeitpunkt als gehobene Wohngegend bezeichnen.

3. Baustruktur und Nutzung

Von der Fertigstellung des Hauses in der Mengstraße 4 zeugt auch heute - zusammen mit der Inschrift »Dominus providebit« (Der Herr wird vorsorgen) - das noch sichtbare Datum 1758 über dem Portal. 

Johann Michael Croll (1706-1777) war ein aus Marburg zugewanderter Russlandkaufmann. Er ist schon 1743 als Lübecker Bürger nachgewiesen und wohnte zunächst in der Alfstraße, einer parallel zur Mengstraße gelegenen Hafenstegstraße unterhalb von St. Marien. Neben dem Handel mit Russland betrieb Croll eine Zuckerfabrik, die viel Gewinn abwarf, da solche Unternehmen im Ostseeraum zur damaligen Zeit rar waren. Aus diesen Geschäften gewann er das Geld, das neue Haus in der Mengstraße zu bauen. 

Die weiße Fassade mit den beiden Figuren unterhalb des Giebels, die auf der linken Seite die Zeit und auf der Rechten den Wohlstand symbolisieren, hatte durch die Jahre hinweg Bestand: während das Portal und das untere Drittel der Renaissance zuzuordnen sind, entstand der übrige Teil im Übergang zwischen norddeutschem Spätbarock und Rokoko. 

Das Vorderhaus beherbergte den Geschäftsbetrieb und diente zur vorübergehenden Lagerung der Waren. Auf der Diele im Erdgeschoss befand sich die Küche, die in nächster Nähe zum Zugang zum Gewölbekeller unter dem Vorderhaus lag. Das Dienstpersonal hauste meist in Verschlägen über der Küche (den Hangekammern) oder unter der Treppe, die von der Diele in die Obergeschosse führte. Diese Haupttreppe führte in das erste Stockwerk des Hauses - in das Wohngeschoss. Diese Belétage war auch nach außen durch die besonders hohen, fünfachsig gegliederten Fenster präsent. 

Das darüberliegende flache Dachgeschoss des Haupthauses war vermutlich von Anbeginn nicht mehr als Speicherraum vorgesehen. Die in älteren Kaufmannshäusern übliche Luke, durch die man Waren mittels einer im Dach angebrachten Winde von der Diele nach oben beförderte, ist in diesem Haus nicht mehr nachgewiesen. 

An das Haus schloss sich ein Seitenflügel an, dessen Breite weniger als die Hälfte des Hauses betrug. Er galt, wie seit dem Mittelalter üblich, als der eigentliche Wohntrakt, wohingegen die 1758 sehr modernen Zimmer in der ersten Etage des Haupthauses lediglich repräsentative Zwecke erfüllten. Den Raum zwischen Seitenflügel und nachbarlicher Hausmauer nahm der Hof ein. Direkt dahinter schloss sich der Garten an, der durch das Gartenhaus (oder Portal), das sich über die gesamte Grundstücksbreite erstreckte, abgeschlossen wurde. Hinter dem Gartenhaus lag ein zweiter Hof, begrenzt durch ein abschließendes Quergebäude, das als Speicher genutzt werden konnte.

Johann Wilhelm Croll (1753-1807) übernahm das Geschäft des Vaters. Er kaufte Kupfermühlen auf und brachte die Firma weiter voran. Mit seiner Frau und sieben Kindern bewohnte er nun das väterliche Haus. Sein einziger überlebender Sohn Johannes (1788-1847), war beim Tod des Vaters noch ein Kind, führte aber nach seiner Ausbildung zum Kaufmann das Geschäft weiter. Er ließ das Haus in den Jahren von 1822 bis 1824 durch den renommierten dänischen Architekten Joseph Christian Lillie (1760-1827) renovieren. Lillie, ein Vertreter des Kopenhagener Klassizismus, war ab 1800 mit zahlreichen Neubauten, Aus- und Umgestaltungen in Häusern der ersten Kreise Lübecker Bürger betraut. 

Die Hauptaufgabe für den Architekten Lillie bestand sicherlich darin, das erste Obergeschoss neu zu dekorieren. Es wird bereits eine Belétage vorhanden gewesen sein, die lediglich umgestaltet wurde - es ist nämlich unwahrscheinlich, dass die Hauptrepräsentationsetage eines Hauses über 70 Jahre lang leer stand oder als Speicherplatz benutzt wurde.

4. Verkauf des Hauses 1842 - Familie Mann in der Mengstraße 

1842 verkaufte Croll das Haus an Johann Siegmund Mann jun. Die Mutter seiner zweiten Ehefrau, Elisabeth Marty, war in dem Haus aufgewachsen. Und es war offenbar der sehnliche Wunsch dieser Großmutter Thomas Manns, in das Elternhaus ihrer Mutter einzuziehen. Nach Lehrjahren in Gülzow, Lübeck, Hamburg und Amsterdam und wieder Lübeck, trat J. S. Mann jr. ab 1823 als Kaufmann in das Geschäft seines Vaters ein, der Handel mit Eisenwaren, Leinen, Papier, Zink, Mahagoni, Tabak und englischen Dachschiefern betrieb.

In erster Ehe war J.S. Mann jr. von 1825-1833 mit Emilie Wunderlich, einer Tochter des Bürgermeisters Thomas Wunderlich verheiratet. Vier Jahre nach ihrem Tod, 1837, heiratete er seine zweite Frau, besagte Elisabeth Marty (1811-1890) und gelangte in diesen Jahren im Beruf zu hohen Würden: 1840 wurde er Ältermann der Bergenfahrer und 1845 königlich niederländischer Konsul. 1848/49 war er Mitglied der neuen Lübecker Bürgerschaft und nahm als Abgeordneter teil an jenen Ereignissen, die Thomas Mann im Revolutionskapitel von Buddenbrooks schildert. 

Sein Sohn Thomas Johann Heinrich Mann (1840-1891) wiederum, der die Firma Johann Siegmund Mann in dritter Generation leitete, übernahm das Geschäft des Vaters am 1. Januar 1863 im Alter von 22 Jahren. Er beließ den Sitz der Firma in der Mengstraße, verlegte ihn aber 1883 in die Beckergrube 52. Thomas Manns Vater war ein moderner Geschäftsmann, der die neuen Konjunkturen zu nutzen wusste. Sein Standbein war Getreidehandel, den er im großen Stil betrieb. Er investierte aber auch in die aufstrebenden Industrien und in das Bankgewerbe. Er machte große Gewinne und sehr große Verluste. 

Die Mengstraße blieb das Wohnhaus seiner Eltern, der Großeltern Thomas Manns. Es war die Verkörperung der bürgerlichen Tradition, die seine Kinder später als ihren Hintergrund verstanden, büßte jedoch mit der Ausgliederung der Firma aus dem Haus an geschäftlicher Funktion ein.

5. Das Haus Mengstraße 4 nach dem Verkauf durch die Manns 1891 

Nach dem Verkauf aus dem Besitz der Manns ging das Haus in den Besitz verschiedenster Eigentümer über, bis es der Lübecker Staat 1894 kaufte. Eine Phase der Umbauten am Haus begann: 1895 wurden die Hintergebäude abgerissen (Speicher und Gartenhaus), um Platz für den Bau einer städtischen Markthalle zu schaffen. 1898 zog kurzzeitig eine Volkslesehalle in das Hauptgebäude ein,danach wechselten die gewerblichen Mieter in rascher Folge. 1904 wurde für die Lübeckische Staatslotterie eine Wand eingerissen, um aus der Belétage einen Ziehungssaal zu machen. In den zwanziger Jahren, als Thomas Manns Name unangefochtene Autorität erlangt hatte, schien man mit dem Haus auch besser umgehen zu wollen. 

Die Buddenbrook-Buchhandlung, die sich von 1922-29 in dem Haus eingemietet hatte, schaffte wohl am ehesten die Verbindung zum Werk Thomas Manns. Jedoch fand eine völlige Umgestaltung des Interieurs statt: Die Architekten Schöß und Reteldorff ließen noch vorhandene Originaleinrichtungen beseitigen, um links und rechts der Eingangstür comptoirähnliche Einbauten zu errichten.

Während des Brandbombenangriffes der britischen Luftwaffe in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 wurde auch das Haus in der Mengstraße 4 zerstört wie zwei Fünftel der historischen Altstadt und drei der großen Lübecker Stadtkirchen. Vom Buddenbrookhaus standen nur noch die Fassade und Reste der Seitenmauern zu Nummer zwei und zu Nummer sechs. Sie und der barocke Gewölbekeller blieben als einzige erhalten. 

Die Hansestadt Lübeck verkaufte das Haus noch kurz vor dem Tod Thomas Manns an eine Genossenschaftsbank. Sie ließ das Haus zu ihren geschäftszwecken neu errichten. Eröffnung war 1957. Die Fassade wurde, da sie nicht allzu schwer beschädigt war, durch den Steinrestaurator Ludwig Schirrmeister im wesentlichen wiederhergestellt, aber auch dekorativ verändert. Beim Wiederaufbau wurden die Keller respektiert. 

Der heute noch bestehende Neubau ist gut fünf Meter kürzer und damit fast ebenso lang wie der 1758 abgerissene mittelalterliche Baukubus. Der Seitenflügel wurde nicht wieder errichtet, die Seitenmauer zum Haus Mengstraße 2 abgerissen und die westliche Mauer zur Nr. 6 bis zur Mitte des ersten Obergeschosses abgetragen. Ob die Dielenhöhe des Hauses von 1758 erhalten blieb, ist nicht gesichert. Fest steht jedoch, dass das ehemalige erste Obergeschoss heute 45 Zentimeter niedriger ist.