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Text 5 von Marten König

Wie viel Heßling steckt in uns? 

von Marten König

In Deutschland ist man sich einig: Faschismus und bedingungslose Zustimmung zu Personen, die nach Macht streben und die Demokratie ablehnen, gibt es nicht mehr und wird es auch nie wieder geben. Das sei Vergangenheit und die Menschen heute seien für Propaganda und Ausgrenzung von Minderheiten nicht mehr empfänglich. Doch dieses Weltbild erweist sich als Wunschdenken. Der kürzlich veröffentlichte Verfassungsschutzbericht zeigt deutlich auf: Die Zahl der extremistisch motivierten Straftaten ist angestiegen und die Warnung des Verfassungsschutzes ist eindeutig: Die Gefahr von rechts ist die größte extremistische Bedrohung, die wir in Deutschland für die Demokratie haben. Bam! Das war unmissverständlich. Deutschland wieder das Land der nicht denkenden und buckelnden Gesellschaft? Wird es wieder einen starken Mann geben und niemand sagt etwas? Wird es bald ein Nazi-Deutschland 2.0 geben und alle schauen zu? Nein, es wird bestimmt vorher interveniert, so wie 1939. Oder so. Diese Fragen und die Fakten, die ungeschönt auf dem Tisch liegen, sind bestimmt Anlass für eine Debatte in der Bevölkerung oder mindestens in der Politik? Der Krieg in der Ukraine muss doch Beispiel genug sein, um schonungslos mitzuerleben, was ein Diktator auslöst? 

Nichts dergleichen ist Realität. Die Medienlandschaft ist zwar angefüllt mit den neusten Nachrichten und Entwicklungen in der Ukraine. Doch nun, nach über 100 Tagen verbrecherischen Auseinandersetzungen, ist die Weltbevölkerung wieder zum Alltag zurückgekehrt. Das heißt keinesfalls, dass die Anteilnahme nicht weiterhin da ist und die Geflüchteten aufopferungsvoll integriert werden. Doch Lehren, die man aus diesem Krieg offenbart zieht, werden zu selten kommuniziert, verstanden und in das eigene Verhalten aufgenommen. Eine niedrigschwellige Möglichkeit hierfür wäre die Teilnahme an Demonstrationen oder Mahnwachen gegen Krieg und autoritäre Systeme. „Doch warte, passt gerade nicht, fahre lieber ins Fitnessstudio.“ 

Jetzt stellt sich die Frage, was hat das mit Diederich Heßling, der Hauptfigur des Klassikers Der Untertan von Heinrich Mann, zu tun? Und ob Schüler:innen den Roman noch lesen sollten? Nun, ich will es einmal so sagen: Alles! Dennoch reißen die Forderungen zu keinem Zeitpunkt ab, welche verlangen, dass in der Schule endlich „Vernünftigeres“ gelehrt werden soll. Da geraten oft die Gedichtanalyse oder eben die vorgegebenen Lektüren ins Visier derer, die Platz für Steuerrecht oder Mietrecht schaffen wollen. Ohne Zweifel, die Schule muss sich verändern ‒ muss zukunftsfähig werden, statt Schüler:innen zu verwalten. Individualität fördern, statt behindern. Trotzdem ist eine Sanierung kein Neubau. Die Lektüre von Klassikern wie Der Untertan muss bleiben. Der Roman ist zu seiner Zeit eine Vorhersage der Geschichte gewesen und heute eine stetige Erinnerung an eine Zeit, die sich hoffentlich nie mehr wiederholt. Allerdings ist das nicht selbstverständlich und Hoffnung ist zwar wichtig, aber Taten sind wichtiger. Wir müssen uns tagtäglich vergegenwärtigen, dass Frieden und Demokratie keine Selbstverständlichkeiten sind und wir für sie eintreten und kämpfen müssen. Dabei hilft ganz ohne Zweifel eine intensive Auseinandersetzung mit Werken, die an die Zeit autoritärer Regime erinnern und den Schüler:innen klar machen, dass ihre Lebensrealität ein nicht hoch genug zu schätzendes Gut ist. Mit Blick auf Afghanistan, Syrien oder jüngst die Ukraine sind nur einige Beispiele genannt, die unsere Welt noch immer erschüttern und in denen die brutalen Folgen einer Diktatur deutlich werden. Gleichwohl schwingt bei diesen Vergleichen aber auch eine gewisse emotionale Distanz mit: „So etwas passiert, aber bei uns würde das nicht vorkommen.“ „Wir sind dafür zu geprägt, zu weit entwickelt und Partizipation ist für uns ‚normal‘, Geschichtsunterricht besteht ja nur aus NS-Geschichte. Gähn.“ Dies sind nur ein paar der gängigen Aussagen, die entgegnet werden, wenn Stimmen vor einer Wiederholung des Dritten Reiches oder einer militärischen Auseinandersetzung warnen. All das ist, mit Verlaub, eine sehr eingeschränkte Sicht derer, die sich an Polizeieinsätze vor Synagogen gewöhnt haben und über Überfremdung klagen. Was hat das mit Diedrich Heßling zu tun? Heßling ist der Prototyp des idealtypischen Untertanen, der sich an das System anpasst und es zu seinem Vorteil nutzt, indem er lügt und betrügt. Der identitätslos ist ‒ eine Hülle! 

Die Schule von heute setzt auf breite Bildung, aber bitte nur im vorgeschriebenen Rahmen ‒ Nebenschauplätze unerwünscht, kritische Nachfragen, keine Zeit. Anpassung statt Kontroverse, Individualität nicht gefragt. Die Schule versucht eher im Gegenteil, kritische Stimmen im Keim zu ersticken und ist für Kritik so offen wie Putin für Diplomatie. Dieses System prägt junge Menschen ungemein und sie lernen, dass Kritik oder das Hinterfragen von Entscheidungen nicht erwünscht ist und oft sogar noch zu weitreichenden Konsequenzen in der Notenvergabe führt. Das zeigt, dass im Kern unserer Ausbildung mitunter noch ein autoritäres System vorherrscht, was dazu führt, dass eine kritische Gesellschaft immer weiter abnimmt. Studien belegen, dass jeder dritte unsere Gesellschaft als „überfremdet“ wahrnimmt und jeder zehnte sich eine Diktatur wünscht. Und da haben wir es wieder: Der Wunsch nach der starken Hand, die führt oder mit Heßlings Worten: „Kaiser, ich folge dir.“ 

Diese Generation hat keinen Krieg erlebt und die der Eltern auch nicht. Deswegen ist es umso wichtiger, dass gerade sie vermittelt bekommen, dass das Hinterfragen und die Bildung einer eigenen Meinung elementar sind, um weiter in Frieden zu leben und die Machtübernahme einer „Führerpersönlichkeit“ zu verhindern. Der Untertan ist aktueller denn je und eine Streichung würde ein weiterer Schritt in Richtung Gleichgültigkeit und Kritiklosigkeit sein. Durch die Beibehaltung der Lektüre besteht weiterhin die Hoffnung, dass die Erinnerung nicht erlischt. Statt Konformität, Individualität fördern und fordern. „Sapere aude!“ Cheers!

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